Projekt Höhenangst #10

„Das war nix!“, bemerkte Frau Lambert und schüttelte enttäuscht den Kopf.

Verwundert hob Anna die Augenbrauen. „Wie kommt das denn? Hat sich doch keine Gelegenheit ergeben, um mit Ihren Freundinnen über Ihren Mann zu sprechen?“ Letzte Woche noch hatte die Patientin das für eine gute Idee gehalten.

„Doch“, sagte Frau Lambert. „Aber der ganze Abend ist anders gelaufen, als ich dachte.“

Sie schürzte die Lippen und fuhr dann fort: „Ich hatte Ihnen doch erzählt, dass wir zu Kerstins Geburtstag eingeladen waren. Max, mein Mann, war auch mit. Wir sind ja alle mittlerweile verheiratet oder haben zumindest einen festen Partner. Katja hat Dirk, Kerstin hat Thomas, Nadine hat Stefan, und ich habe eben Max.

Auch wenn wir Mädels uns zuerst angefreundet haben, sind im Laufe der Zeit die Männer dazu gekommen, und jetzt treffen wir uns immer in der Runde. Es war auch alles schön, Kerstin hatte ein tolles Essen gemacht, Salate und so, die Männer haben gegrillt.

Irgendwann hatten wir dann alle ein paar Gläser Wein intus – außer Katja, die hat uns nämlich an dem Abend eröffnet, dass sie schwanger ist –, und wir sind ins Reden gekommen. Die Männer saßen am Feuer, wir Mädels, weil uns ja immer kalt ist, haben uns ins Wohnzimmer zurückgezogen. Und nachdem die erste Aufregung um Katjas Schwangerschaft abgeflaut war, dachte ich, jetzt könnte ich von mir und Max erzählen, was ich dann auch gemacht habe.“

„Was genau haben Sie denn erzählt?“, fragte Anna.

„Das, was ich Ihnen auch erzählt habe. Dass er mich einfach ignoriert, wenn ich mit ihm über unsere Situation reden will, oder dass er abfällige Bemerkungen macht. Und dass ich keine Lust habe, mich so herabwürdigend behandeln zu lassen. Dass ich mir letztendlich nicht mehr sicher bin, ob ich überhaupt noch mit ihm zusammen sein will.

Katjas Baby hat mir das Ganze nochmal deutlich gemacht: Wir sind jetzt in dem Alter, in dem man eine Familie gründet, und dazu brauche ich den richtigen Partner.“

„Wie haben Ihre Freundinnen denn darauf reagiert?“

„Genau das war ja das Problem. Die haben mir überhaupt nicht geglaubt, dass Max so ist!“

Anna war verdutzt. „Wie, die haben Ihnen nicht geglaubt? Was haben die denn konkret gesagt?“

„Dass ich mir das einbilde!“, rief Frau Lambert. „Ja, ich hab’ genauso sparsam geschaut wie Sie jetzt, aber die haben ernsthaft gesagt, dass die sich das bei einem Mann wie Max nicht vorstellen können, dass der sich so verhält. Dass ich das wohl falsch interpretiere oder übertreibe, und dass ich doch froh sein soll, dass ich so einen tollen Mann überhaupt abbekommen habe.“

Anna runzelte die Stirn. „Und wie haben Sie darauf reagiert?“

„Ich habe versucht, denen klar zu machen, dass ich keinen Quatsch erzähle, aber die sind überhaupt nicht darauf eingegangen. Sie meinten, sie würden Max ja auch schon seit zehn Jahren kennen, seitdem wir eben zusammen sind, und sie hätten ja auch schon die eine oder andere Gelegenheit mit ihm verbracht, und er sei doch immer lieb und nett und zuvorkommend gewesen, ein Gentleman eben, höflich und mit guten Manieren, gut gelaunt und fröhlich.

Und daher könnten sie sich das überhaupt nicht vorstellen, was ich sage. Sie meinten, dass er sich ja wohl um hundertachtzig Grad drehen müsse, wenn das stimmen würde, was ich behaupte, dass er quasi ein Wolf im Schafspelz sei, dass ich ihn total falsch darstelle, und dass ich lieber aufpassen solle, welche Behauptungen ich da über ihn in die Welt setze. Schließlich sei er ja auch ihr Freund und der ihrer Männer, und die hätten sich auch noch nie über ihn beschwert.“

Damit hatte Anna nicht gerechnet. Ihre Patientin tat ihr leid.

Frau Lambert verschränkte die Arme vor der Brust und verzog angewidert das Gesicht. „Ich finde es ja noch in Ordnung, dass die offenbar keinen Bock auf Problem-Talk haben und darauf, dass ich ihnen die schöne Stimmung mit dem Baby kaputtmache und so. Eine Trennung passt halt nicht in so ‘ne Heile-Welt-Romantik, das ist mir jetzt auch klar. Alle heiraten, bauen Häuser, kriegen Kinder, und ich denke über Scheidung nach.

Und dass das eher „Freundinnen“ sind“, sie machte mit den Händen Gänsefüßchen in die Luft, „mit denen man gut freudige Anlässe feiern kann, aber die, wenn es hart auf hart kommt, garantiert nicht für einen da sind. Ist mir auch scheißegal. Aber was ich echt schlimm finde, ist, dass die mir nicht glauben!“ Sie fuchtelte wild mit den Händen in der Luft herum.

„Wie ist der Abend denn ausgegangen?“, hakte Anna nach.

„Nachdem ich gemerkt habe, dass ich bei meinen angeblichen Freundinnen auf Granit beiße mit dem Thema, habe ich die Klappe gehalten und nett gelächelt, als das Gespräch sich dann wieder um nettere Themen drehte. Tut mir ja leid, wenn ich da jemandem den Abend ruiniert habe und nicht in die Runde passe“, sagte sie schnippisch.

„Hinterher, als ich wieder zuhause war, habe ich mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Und dabei ist mir aufgefallen – abgesehen davon, dass meine Menschenkenntnis offenbar grottenschlecht ist –, dass die Recht haben. Max hat wirklich zwei Gesichter, der ist wirklich wie ein Wolf im Schafspelz!

Ich habe nochmal überlegt, der macht das tatsächlich öfter. In der Öffentlichkeit vor anderen Leuten ist er der liebste, netteste Mann aller Zeiten, und zuhause behandelt er mich wie den letzten Dreck. Kein Wunder, dass mir keiner glaubt und alle denken, ich hätte einen an der Waffel und nicht er!

An dem Abend war es das gleiche: Zu unseren Freunden war er charmant und höflich, gut gelaunt, und alle mögen ihn. Früher war es sogar so, dass meine Mädels richtig neidisch auf mich waren, dass ich einen Mann wie ihn abbekommen hatte. Eine gute Partie sozusagen.

Aber sobald wir zuhause sind, kippt die Stimmung wieder. Mittlerweile habe ich schon das Gefühl, dass er mich überhaupt nicht mehr leiden kann. Er lässt dann seine Launen an mir aus, und wenn ich mit ihm darüber reden will, Sie wissen ja.“

Nach einer kurzen Pause erklärte sie dann: „Ich bin so enttäuscht. Im Leben hätte ich nicht damit gerechnet, dass meine Freundinnen mich so hängen lassen. Und wenn Max sich nicht so krass unterschiedlich verhalten würde, zuhause und vor anderen Leuten, würde ich sogar noch an mir selbst zweifeln, ob es nicht stimmt, was die anderen sagen, dass ich diejenige bin, die das alles falsch sieht.

Schlussendlich habe ich also niemanden, der in puncto Max mal bereit wäre, meine Perspektive einzunehmen. Meine Familie ist zwar lieb und nett, aber ich hatte Ihnen ja schon erzählt, wie die zu unserer Ehe stehen.“

Anna nickte.

Verschwörerisch, als wollte sie ihrer Therapeutin ein unglaubliches Geheimnis anvertrauen, sagte die Patientin: „Und wissen Sie, was die Pointe an der ganzen Sache ist?

Ich war sogar so fassungslos darüber, dass die Mädels mir unterstellt haben, ich würde Unsinn erzählen, dass ich dachte, ich muss meine Wahrnehmung lieber noch einmal überprüfen. Ich bin also tatsächlich zu meiner Schwester gegangen, und Sie wissen ja, was für ein verkorkstes Verhältnis Bianca und ich haben.

Aber ich dachte, sie kennt Max ja auch, mal sehen, wie sie die ganze Situation sieht. Bianca hat mir sogar geglaubt, das war gar nicht das Problem. Ich glaube, sie hat sogar keinen Moment daran gezweifelt, dass Max sich im Privaten ganz anders verhalten kann als in der Öffentlichkeit.

Aber sie sieht das wie immer nur aus ihrer Perspektive und meint, alles sei besser als das, was sie habe, daher solle ich mich nicht so anstellen und einfach mal die Beine breit machen, dann hätte ich nicht so viele Probleme.

Sie meint, wenn sie sich in meiner Situation befände, würde sie nicht so rumheulen, schließlich könne er mir alles bieten, und ich könne mir ein bequemes Leben machen.

Und jetzt kommt das Allerschlimmste“, Frau Lambert machte eine dramatische Pause, „sie schafft es immer wieder mit solchen Äußerungen, dass ich ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen habe.“

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