Anna hatte erfahren, dass Herr Dürenberg neununddreißig Jahre alt war und aus einem reichen Elternhaus stammte.
Sein Großvater Gregor hatte einst in der Nachkriegszeit ein kleines Unternehmen gegründet und hochwertige Lampen produziert und verkauft. Trotz der kargen Verhältnisse damals hatte Gregor sich den Ratschlägen seiner Familie widersetzt, preisgünstige Stücke herzustellen, die für den durchschnittlichen deutschen Haushalt erschwinglich gewesen wären, und die Massenproduktion verteufelt.
Statt dessen steckte er als Kunstliebhaber seine Zeit und Leidenschaft lieber in das Design ausgefallener Lampenschirme, verwendete teure, exquisite Materialien und bot seine Werke nur den edelsten und exklusivsten Hotels an, auch international.
Diese Strategie hatte tatsächlich zum Erfolg geführt, so dass das Unternehmen wuchs und Gregor bald im ärmlichen Nachkriegsdeutschland ein Mann ohne Geldsorgen war.
Herr Dürenberg bewunderte seinen Großvater für dessen Errungenschaften. Vor allem jedoch dafür, dass er erfolgreich geworden war mit Dingen, die er liebte, die er gerne tat, ohne sich für seine Familie oder seine Umwelt zu verbiegen.
Auch wenn er seinem heißgeliebten, mittlerweile verstorbenen Opa darin nacheiferte, war ihm diese berufliche Erfahrung selbst vergönnt geblieben.
Sein Vater, Friederich, hatte das Unternehmen als Gregors Sohn irgendwann geerbt und fortgeführt. Friederich war mittlerweile sechsundsiebzig, eigentlich längst in Rente, doch er konnte es nicht lassen, weiter seine Nase und seine Finger in die unternehmerischen Belange zu stecken.
Er war sein Erbe einst mit großer Ehrfurcht und Ernsthaftigkeit angetreten. Schließlich hatte er das Unternehmen in die moderne Zeit geführt und weiterentwickelt.
Als Unternehmer aus wohlhabenden Verhältnissen hatte Herrn Dürenbergs Vater selbst eine gute Erziehung und Bildung genossen und diese selbstverständlich an seine eigenen Söhne weitergeben wollen.
Allerdings hatte Anna den Eindruck, dass es zwischen der guten Absicht und der Umsetzung der Kindererziehung deutliche Diskrepanzen gegeben hatte. Friederich war laut Herrn Dürenberg ein strenger Vater, der Disziplin, Gehorsam und vor allem Leistung von seinen Söhnen forderte.
Wurden schlechte Noten, zerzauste Haare oder vom Spielen schmutzige Kleidung nach Hause gebracht, bestand die Strafe dafür aus Schlägen, Hausarrest und Liebesentzug.
Alle Söhne der Dürenbergs waren schon so hart verdroschen worden, dass sie zwischenzeitlich eine Woche oder länger in der Schule fehlen mussten, damit die Blutergüsse an den sichtbaren Stellen wie dem Gesicht erst einmal wieder unauffällig abschwellen konnten.
Manchmal passierte es eben, dass Friederich in blinder Wut die Hand ausrutschte und seine Faust im Gesicht der Jungs landete. Gürtelstriemen am Rücken waren zum Glück weniger auffällig. Seine Absicht bestand ja nun nicht darin, dass sie noch schlechter in der Schule wurden, indem sie aufgrund ihrer eigenen Fehlleistung auch noch Unterricht verpasst hätten. Das wäre ärgerlich gewesen.
Teils wochenlang sprach er kein Wort mit seinen Kindern, ignorierte sie oder machte höchstens abfällige Bemerkungen. Gute Leistungen hingegen wurden nicht belohnt, sondern als selbstverständlich zu erbringende Pflicht des Nachwuchses angesehen.
Camilla, Herrn Dürenbergs Mutter, war mit ihren sechsundsechzig Jahren gute zehn Jahre jünger als ihr Mann und lebte das typische Leben einer reichen Gattin. Als Frau an Friederichs Seite hatte sie natürlich nicht gearbeitet, und auch im Haushalt hatte sie sich nie die Finger schmutzig machen müssen.
Ihre Aufgabe bestand darin, ihren „ehelichen Pflichten“ nachzukommen. Also, hübsch und repräsentabel auszusehen, ihrem Mann gefügig zu sein, mit ihm zu schlafen, wenn er es wollte, und Kinder zu bekommen.
Herr Dürenberg hatte als Jugendlicher einmal mitbekommen, wie sie einer Tante gegenüber erwähnte, dass das wohl nicht immer beiderseitigen Einverständnisses bedurfte, um durchgesetzt zu werden. Nach außen führten sie eine Bilderbuchehe.
Doch hinter verschlossenen Türen litt auch Camilla unter der Tyrannei ihres Mannes. Die Gewalt gegen sie entlud sich eher im Bett. Die Kinder hörten das auch hinter verschlossenen Schlafzimmertüren.
Als Mutter sah sie sich hilflos darin, ihre Kinder und sich selbst vor ihm zu schützen, und so ertränkte sie ihren Kummer im Alkohol. Selbstverständlich trank sie nur Champagner und die besten Weine, so dass ihr heimliches Laster während der vielen Festivitäten und Partys im Rahmen des gesellschaftlich Anerkannten und daher unauffällig blieb.
Nur zuhause zog sie sich allein mit ihren zahlreichen Flaschenfreunden in die hauseigene Bibliothek zurück und prostete ihnen und den erfundenen Charakteren in den Fantasiewelten der vielen Bücher zu, in denen sie sich regelmäßig verlor. Jeder in der Familie wusste das. Geredet wurde darüber nie.
Heinrich war mit seinen vierundvierzig Jahren der älteste Sohn von Friedrich und Camilla und damit auch der älteste Bruder von Herrn Dürenberg. Respektvoll, fast schon devot hatte er sich dem Willen des Vaters ergeben und BWL studiert, um das Familienunternehmen zu übernehmen, welches er mittlerweile führte.
Auch Alexander, zweiundvierzig, trat in die großen Fußstapfen seiner Vorväter und entwickelte seit dem Ende seines Wirtschaftsstudiums die internationalen Standorte der Produktion weiter. In den Augen ihres Vaters war es das Mindeste, was die Söhne tun konnten, nachdem er ihnen einen so guten Start ins Leben ermöglicht hatte.
Heinrich hatte spät eine deutlich jüngere Frau geheiratet, Carina, einunddreißig Jahre alt. Mit ihr hatte er zwei Kinder. Alexander hatte es ihm und seinem Vater gleichgetan und sich mit Katharina, fünfunddreißig, ebenfalls eine jüngere Partnerin zugelegt. Gemeinsam hatten sie sogar bereits drei Kinder.
Weder Carina noch Katharina arbeiteten. Sie hatten zwar irgendetwas studiert, denn eine Frau ohne Bildung wäre den Dürenberg’schen Sprösslingen nicht ins Haus gekommen. Aktuell konzentrierten sie sich allerdings völlig auf die Kindererziehung und sorgten sich um das gesellschaftliche Leben ihrer Familien.
Annas Patient passte offenbar so gar nicht in seine eigene Familie. Als jüngster von den drei Söhnen hatte er weder von seiner Mutter, noch von seinem Vater großartig viel Aufmerksamkeit erhalten. Beide Elternteile waren stets mit sich selbst beschäftigt gewesen und hatten weder Lust noch Zeit für den ungeplanten Nachkömmling gehabt.
Herr Dürenberg selbst vermutete, dass er in einer dieser nicht so ganz einvernehmlichen Nächte entstanden sei und sich daher die Begeisterung seiner Eltern für ihn in Grenzen hielt. Schließlich war er damit quasi der lebende Beweis dafür, wie wenig idyllisch die Ehe von Friederich und Camilla tatsächlich ablief.
Dennoch war von ihm erwartet worden, dass er schnell die gleichen Leistungen wie die älteren Brüder erbringen sollte, was er aufgrund seines jüngeren Alters aber nie geschafft hatte.
Herr Dürenberg war seinen älteren Geschwistern hinterhergerannt und ihnen lästig gewesen. In einer Familie, in der es um Leistung und Selbstdarstellung ging, war kein Platz, um sich mit einem Schwächeren aufzuhalten.
Also hatte er sich im Alleingang abgemüht und versucht, gute Leistungen zu erbringen, so dass er zumindest in der Schule zu den Klassenbesten gehörte. Doch innerlich quälte er sich mit der Frage nach seiner beruflichen Identität.
Als es irgendwann darum ging, sich konkret für einen Weg nach dem Abitur zu entscheiden, stand für seine Klassenkameraden und Freunde im Vordergrund, ihren Interessen und Neigungen nachzugehen und zu studieren, worauf sie Lust hatten.
Von Herrn Dürenberg hingegen wurde selbstverständlich erwartet, dass er wie seine Brüder BWL studierte und anschließend mit in das Familienunternehmen einstieg. Seitens seiner Eltern war es zwar durchaus angesehen, dass er sich in seiner Freizeit für Kunst und Kultur interessierte und es liebte, zu zeichnen und zu malen, doch hätten sie es niemals gebilligt, wenn er einen kreativen Beruf gewählt hätte. Eine brotlose Kunst.
Als einziger der drei Söhne hatte er es schließlich gewagt, diese Option mit seinem Vater überhaupt zu thematisieren, was in zahlreichen Disputen geendet war. Herr Dürenberg wurde immerhin mittlerweile von seinem Vater bei Ungehorsam nicht mehr geschlagen, allerdings ließ Friedrich ihn seinen Zorn über Drohungen, Herabwürdigungen und Ignoranz spüren. Das alte Schema.
Camilla zog sich in ihrer Hilflosigkeit wie gewohnt in ihre Fantasiewelt zurück und soff. Heinrich und Alexander brachten ihre Missbilligung über die Missachtung der Tradition seitens ihres kleinen Bruders deutlich zum Ausdruck und gaben sich genervt über die Störung des Familienfriedens. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit diesem Thema gab es in der Familie nicht.
Letztlich machte Herr Dürenberg mit sich und seiner Familie einen Kompromiss und studierte Bauingenieurwesen. Er wurde zwar weiterhin zuhause geduldet, doch spätestens, seit er nach dem Studium in anderen Betrieben arbeitete als im Familieneigenen, war er das schwarze Schaf der Dürenbergs.
Er wollte beruflich unabhängig sein, etwas Eigenes auf die Beine stellen. Aber das war nicht gerne gesehen. Friederich fühlte sich vor den Kopf gestoßen von seinem ungewollten Sohn, der, obwohl er immer mit durchgefüttert worden war, so undankbar ablehnte, großzügig in das Familienheiligtum aufgenommen zu werden und seinen Dienst zu tun.
Annas Patient hatte immer davon geträumt, ebenso, wie einst sein Großvater, erfolgreich mit dem werden zu können, was er gerne tat, wofür seine Leidenschaft brannte. Und obwohl er es als erster in der Familie geschafft hatte, seinem Vater zu trotzen und etwas anderes zu studieren als Wirtschaft, und obwohl er seinem Beruf gerne nachging, hielt sich der Erfolg in Grenzen.
Als Neuling nach dem Studium wurde er von seinen älteren Kollegen herumgeschubst, wechselte mehrmals den Arbeitgeber und blieb irgendwie immer bloß als kleiner Angestellter mit mäßigem Erfolg in irgendwelchen Ingenieurbüros hängen.
Nicht nur ihn wurmte das, sondern auch seine Familie, allen voran seinen Vater, und sie ließen ihn spüren, dass sie ihn für einen Versager hielten. Sogar für einen, dem es recht geschah, einer zu sein, nachdem er die Chance ausgeschlagen hatte, die Familie in ihrem Unternehmen unterstützen zu dürfen. Und ausgerechnet als er in seinem letzten Büro endlich anfing, die Karriereleiter hinaufzuklettern, funkten ihm die Trennung und seine Psyche dazwischen.
Irgendwann hatte er Ute kennen und lieben gelernt, seine spätere Frau, doch sie war ebenfalls zum Streitthema in der Familie geworden. Denn auch sie passte so gar nicht in den demografischen Durchschnitt der Dürenbergs. Sie war lediglich ein Jahr jünger als Annas Patient, kam nicht wie Carina und Katharina selbst aus wohlhabenden Akademikerfamilien, arbeitete selbst und sogar gerne für ihr Geld.
Herr Dürenberg hatte sie im Gegensatz zu den charakterlosen Püppchen seiner Brüder für ihre Ambitionen bewundert und gedacht, in ihr eine Gleichgesinnte gefunden zu haben. Einerseits tat es ihm leid für Ute, dass seine Familie auf sie herabblickte. Andererseits war es ihm egal, denn er liebte sie, und nur das zählte. Mit ihr an seiner Seite fühlte er sich stark und bekam endlich die Zuwendung, die er von seiner Familie nie bekommen hatte.
Warum die Ehe dann plötzlich nicht mehr funktioniert hatte, war Anna immer noch ein Rätsel. Herr Dürenberg hatte nur knapp erzählt, dass es so gekommen war und angegeben, er wisse selbst nicht, warum.
Aber nach allem, was er in seinem Leben bisher erlebt hatte, war es für sie zumindest nicht verwunderlich, dass er sich nun allein fühlte. Und auch nicht, dass sie ihm als seine Therapeutin und aktuell einzige Vertraute wichtig geworden war.
„Was bedeutet es für Sie, dass Sie mit den Ängsten nicht mehr allein sind?“, fragte sie.
Herr Dürenberg schlug die Augen nieder. „Dass sie zu bewältigen sind.“
Dann blickte er wieder auf. „Vielleicht klingt das doof, und ich weiß ja auch, dass nur ich die Ängste habe und Sie nicht, aber wir sitzen irgendwie zu zweit in diesem Boot. Sie nehmen mich ernst und geben mir das Gefühl, dass Sie verstehen, was ich habe, und wie es mir geht. Und daher denke ich, dass es ja auch wieder weggehen kann, dass man die Ängste wegmachen kann. Und…“
„Ja?“
„Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich mich selbst endlich besser verstehe.“
Ein Kommentar zu „Projekt Höhenangst #9“