„Hallo Herr Dürenberg!“
Gut gelaunt sang Anna beinahe ihre Begrüßung ins Wartezimmer hinein, strahlte ihren Patienten an und nickte mit dem Kopf in Richtung ihres Sprechzimmers, als sie ergänzte: „Sollen wir?“
Herr Dürenberg war am Mittwoch um siebzehn Uhr inzwischen zum festen Bestandteil in ihrem Terminkalender geworden, und sie freute sich jedes Mal, ihn zu sehen.
Obwohl es seine erste Therapie war, hatte er sich ohne Probleme auf das Setting einlassen können, und er und seine Therapeutin hatten sich schnell aneinander gewöhnt. Die Chemie stimmte, sie kamen gut miteinander zurecht und mochten sich gegenseitig.
Es war nicht selbstverständlich, dass eine Therapie direkt so reibungslos von Statten ging. Manchmal dauerte es eine Weile, bis Patienten ihre Skrupel und häufig negativen Vorurteile über die „Seelenklempnerei“ über Bord warfen. Manchmal wiederum brachte ein Patient einen unsympathischen Charakter mit sich, was dann meistens eben auch die Ursache seiner Probleme darstellte, wegen derer er sich in Therapie begab.
Aber nicht so Herr Dürenberg. Er sah gut aus und war mit Jeans und Jackett über dem Hemd leger und gleichzeitig adrett gekleidet. Sein einfacher dunkelbrauner Kurzhaarschnitt zeugte von seinem Pragmatismus und seinem Unwillen, unnötige Zeit mit seinem Äußeren zu verbringen.
Doch in Annas Augen – und sie glaubte, in denen vieler anderer Frauen ebenso – machte genau das ihn so attraktiv: man konnte zwar sehen, dass er sich pflegte, wiederum jedoch nicht zu viel, so dass er wie die perfekte Mischung aus männlich und I don’t give a shit wirkte.
Von seinem Wesen her war er höflich und zuvorkommend, etwas verkopft zwar, mochte Logik und eben Pragmatismus, aber er war freundlich und offen. Hin und wieder machte er einen etwas unbeholfenen Eindruck, wenn er über seine Ängste und Emotionen sprach, doch dann konnte er ebenso wieder charmant sein. Anna war sich sicher, dass ein liebenswerter Typ wie er keine Probleme hatte, von anderen gemocht und von seinem Umfeld akzeptiert zu werden.
Umso unverständlicher war es ihr, wie diese Frau, von der er erzählt hatte, ihn von heute auf morgen hatte verlassen können. Anna fragte sich, was in sie gefahren sein musste, diesen Mann, an dem so überhaupt nichts auszusetzen schien, einfach wegzuwerfen und aus ihrem Leben zu löschen.
Doch dieses Thema stand aktuell nicht im Vordergrund ihrer Gespräche, denn die Höhenangst und der Leidensdruck über seine berufliche Degradierung forderten den meisten Raum in den Sitzungen.
Bisher hatten sie viel darüber gesprochen, wie solche Angststörungen überhaupt entstehen konnten, wie sie sich äußerten, warum sie aufrechterhalten blieben, und welche Interventionsmöglichkeiten daraus ableitbar waren. Sie hatten eben ein klassisches Störungsmodell erarbeitet.
Herrn Dürenbergs Vorliebe für Logik und Pragmatismus hatte sich gut als Ressource nutzen lassen, um diese therapeutischen Aufgaben zu bewältigen und seine Motivation zu erhöhen, sich aktiv auf die Behandlung einzulassen. Soweit lief die Therapie also wie im Lehrbuch vorgesehen, und Anna war mehr als zufrieden.
Heute nahm das Gespräch allerdings einen etwas seltsamen Verlauf.
„Wie geht’s Ihnen?“, leitete sie wie gewohnt die Stunde ein.
„Sie haben mich doch nach unserem ersten Gespräch gefragt, wie ich es fand. Erinnern Sie sich?“
Anna nickte verdutzt über die Gegenfrage. „Ja, natürlich. Wieso?“
Herr Dürenberg lächelte und beugte sich verschwörerisch nach vorne. „Nun, ich habe mir nochmal Gedanken über unsere Gespräche gemacht, weil Sie doch immer sagen, dass ich mich beobachten soll, wie es mir geht, und wie angespannt ich bin und so.“
Anna war überrascht. Sie hatte eher ein kurzes Resümee seiner Woche erwartet.
„Ok“, sagte sie daher halb bestätigend, halb fragend, „und was haben Sie sich für Gedanken gemacht?“ Auch sie beugte sich ein wenig nach vorn in Richtung ihres Patienten.
„Tja, ich habe gemerkt, dass mir diese Gespräche hier mit Ihnen echt gut tun. Ich hatte gar nicht so damit gerechnet. Aber allein, dass ich Ihnen alles erzählen kann, was mich belastet, ohne dass Sie mich dafür belächeln wie meine Kollegen, ist viel wert für mich.“
Anna war von dieser spontanen Rückmeldung ihres Patienten ein wenig überrumpelt. Zugegeben, es war ihr nicht unangenehm, das zu hören. Aber sie war in diesem Moment auf eine spontane Bilanzierung ihrer therapeutischen Beziehung überhaupt nicht vorbereitet gewesen.
Selbstverständlich sprach sie irgendwann mit ihren Patienten darüber, wie sie denn miteinander zurechtkamen, und wie sie den Fortschritt der Therapie einschätzten. Doch in den allermeisten Fällen waren das Konversationen, die Patienten nicht von sich aus einleiteten.
Diese sogenannte Meta-Kommunikation war etwas, was in normalen Alltagsgesprächen eher selten stattfand, was die meisten Menschen daher nicht gewohnt waren oder sogar unangenehm fanden. Umso erstaunlicher war es, wenn Patienten von selbst auf solche Themen lenkten. Was konnte bei Herrn Dürenberg also dahinter stecken?
Manchmal geschah so etwas aus einer spontanen Eingebung heraus. Manchmal hatten Patienten sich aber auch schon derart daran gewöhnt, dass in einer Therapie eben Unkonventionelles besprochen wurde, so dass sie keine Hemmungen mehr hatten, ihr Innerstes zu reflektieren. Und manchmal steckte dahinter ein interaktionelles Bedürfnis.
Da Herr Dürenberg sonst eher ungern über seine Gefühle sprach, beschlich Anna der Eindruck, dass er sich bei ihr anbiedern wollte. Und ihr Verdacht sollte sich bestätigten, als sie seine folgenden Worte hörte.
„Es tut mir gut, dass Sie mit der Aufmerksamkeit ganz bei mir sind. Dass ich Sie in der Stunde hier ganz für mich alleine habe. Sie sind mir wichtig geworden.“
Das war für einen emotional reduzierten Menschen wie ihn unverhältnismäßig offen. Machte er sie vielleicht sogar an?
Instinktiv nahm Anna Abstand von ihm und schob ihren Oberkörper wieder zurück nach hinten in den Sessel, weg von ihm.
Ihm hingegen schien das Gespräch ganz und gar nicht unangenehm zu sein. Entspannt lächelnd saß er in seinem Therapiesessel und wartete auf eine Antwort seiner Therapeutin.
Sie beschloss, ihrer Hypothese näher auf den Grund zu gehen, auch wenn es ihr ein wenig unangenehm war, und setzte eine professionelle Mine auf. „Danke für Ihre Offenheit, Herr Dürenberg. Warum möchten Sie mir das sagen?“
„Ich denke, es ist doch nicht verboten, Ihnen auch mal ein Kompliment zu machen, oder?“, sagte Herr Dürenberg und zwinkerte seiner Therapeutin mit einem scherzhaften Lächeln zu. Dann wurde sein Gesicht wieder ernster.
„Und außerdem ist es wirklich so. Ich habe noch einmal an meine Frau und ihre Therapeutin zurückgedacht. Wie vertraut sie damals miteinander waren, was für ein eingespieltes Team. Ein richtiges Bündnis. Und grade habe ich das Gefühl, dass ich zum ersten Mal auch so jemanden habe, der diese blöden Ängste mit mir zusammen angeht. Dass ich endlich nicht mehr alleine damit bin.“
Anna hatte den Eindruck, einen Anflug von Scham in seinem Gesicht zu erkennen, während er das sagte.
„Hmm“, summte sie bestätigend und erinnerte sich, dass ihn diese Aura von Einsamkeit bereits im Erstgespräch umgeben hatte. Plötzlich verschwand ihr Gefühl, dass er sie anbaggerte, und er tat ihr einfach nur noch leid.
Anna war nicht selten die einzige Ansprechpartnerin für ihre Patienten, die einzige Vertraute, wenn es um deren Probleme ging. Insofern war sie für sie natürlich eine wichtige Bezugsperson. Besonders, wenn Patienten in ihrem Leben sonst niemanden hatten, mit dem sie reden konnten, dem sie vertrauten, und der sich für sie interessierte.
Herr Dürenberg hatte deutlich gemacht, dass er mit seinen Problemen ziemlich allein dastand. Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Kollegen schauten auf ihn herab, in den Augen seiner Vorgesetzten und Kunden war er sowieso nicht mehr ernst zu nehmen, und die Beziehungen zu seinen Freunden und zu seiner Familie gestalteten sich offenbar eher oberflächlicher Natur.
Nach dem zu urteilen, was Anna bisher darüber erfahren hatte, war es nicht verwunderlich, dass er zwar technisch gesehen wusste, wie man sich gegenüber anderen Menschen verhielt, um deren Sympathien auf sich zu ziehen, dass er praktisch gesehen jedoch kaum in der Lage war, sich mit tiefergehenden Emotionen auseinander zu setzen.
Auch in einer Verhaltenstherapie gehörte es dazu, sich zumindest vorübergehend mit der Vergangenheit eines jeden Patienten zu befassen. Zwar siedelten die Strategien, die auf Veränderung abzielten, eher in der Gegenwart und Zukunft an, doch biografische Erfahrungen konnten ebenfalls zur Lerngeschichte beitragen und Aufschluss darüber geben, warum jemand welche Probleme hatte, beziehungsweise warum jemand sich mit bestimmten Dingen im Leben schwerer oder leichter tat als andere Menschen. Aufschluss darüber, was ihn geprägt hatte.
Als Teil der Anamnese hatte Herr Dürenberg bereitwillig seine nötigsten biografischen Informationen preisgegeben, beziehungsweise vielmehr hatte er quasi Bericht erstattet. Emotionen zu zeigen hatte er sich während dessen nicht erlaubt, und auf Annas Nachfragen, wie es ihm denn mit der einen oder anderen Situation ergangen sei, hatte er diese als banal abgetan. „Das war bei uns normal so, nichts Besonderes.“
Ein Kommentar zu „Projekt Höhenangst #8“