„Hallo?“, meldete sich eine männliche Stimme am Telefon.
„Ja, guten Tag“, sagte Anna, „mein Name ist Trebor. Psychotherapie-Praxis Trebor. Spreche ich da mit Herrn Dürenberg?“
„Ja, genau“, antwortete die Stimme.
„Herr Dürenberg, Sie haben sich vor einiger Zeit auf meine Warteliste für eine ambulante Psychotherapie setzen lassen. Ist das noch aktuell?“, fragte Anna.
„Ja, das ist es.“
„Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen nun einen Platz anbieten, und wir können einen Termin für ein Erstgespräch ausmachen. Wie wäre das?“
„Ja, gerne! Für wann denn?“, fragte die Stimme erfreut.
„Wie wäre es nächste Woche Mittwoch um siebzehn Uhr?“
„Ja, gerne!“, wiederholte die Stimme mit Nachdruck. „Wo muss ich denn hinkommen?“
„Meine Praxis ist in der Barbarastraße acht, in der ersten Etage“, erklärte Anna. „Die Tür ist offen, Sie können im Wartezimmer Platz nehmen, ich hole Sie dann da um siebzehn Uhr ab. Bitte bringen Sie eine Überweisung und Ihre Krankenkassenkarte mit zum Termin. Okay?“
„Ja, okay“, freute sich die Stimme, „super! Vielen Dank für den Anruf!“
Anna und die Stimme legten auf.
In ihrer Praxis liebte Anna es, an ihrem riesigen, massiven Schreibtisch aus dunklem Holz zu sitzen. Sie saß dort lediglich zur Bearbeitung von Anträgen, Erstellung von Gutachten oder Dokumentation der Therapiesitzungen. Und auch um die lange Liste wartender Patienten abzutelefonieren, wenn wieder einmal ein Therapieplatz freigeworden war. Das Ende einer Therapie bedeutete immer auch gleichzeitig wieder den Anfang einer neuen Therapie.
Die Psychotherapeutin fand es äußerst spannend, neue Patienten kennenzulernen. Die ersten Kontakte über das Telefon verrieten nicht viel, nur die Stimme, ein paar gebröckelte Informationen. Frau Schulze, die Sekretärin, rief in ihrer kurzen Bürozeit die Patienten zurück, die sich auf dem Anrufbeantworter gemeldet hatten. Manche baten nur knapp um Rückruf, manche hinterließen ihre halbe Lebensgeschichte. Frau Schulze nahm dann Namen, Telefonnummer und Anliegen auf und fügte die Anrufer zur Warteliste hinzu, die sie an Anna weitergab.
Höhenangst.
Mehr stand nicht neben dem Namen der Stimme, mit der Anna eben noch telefoniert hatte. Sie war zwar anerkannte Spezialistin zur Behandlung von Ängsten, aber wegen isolierter Phobien meldeten sich dennoch nicht viele Patienten. Die meisten kamen wegen Depressionen und Burnout zur Therapie. Panikattacken oder Agoraphobie waren außerdem recht häufig Grund für eine Anmeldung, oft aber traten diese Diagnosen auch komorbid mit Depressionen auf. Isolierte Phobien jedoch führten nicht so häufig zur Aufnahme einer Therapie, wie Anna und ihre Kolleginnen im Studium den Eindruck gewonnen hatte. Viele Menschen litten zwar unter Phobien, die allerdings nicht unbedingt behandlungsbedürftig waren. Mit welchen Höhen hatte wohl ein Mensch in seinem täglichen Leben zu tun, dass er derart darunter litt und sich in Psychotherapie begab? Das versprach spannend zu werden.
Anna war mit Leib und Seele Psychotherapeutin. Sie liebte es, der menschlichen Psyche auf den Grund zu gehen, Denk- und Verhaltensmuster zu erforschen und zu verstehen und ihren Patienten dadurch ebenso zu helfen, sich selbst besser zu verstehen.
Wenn sie an ihrem Schreibtisch saß, konnte sie direkt auf ihre beiden Therapiesessel blicken, in denen die Gespräche mit den Patienten stattfanden. Im 90-Grad-Winkel standen sie zueinander geneigt auf der anderen Seite ihres Therapiezimmers. Anna hatte von den beiden Sesseln zwar einen Lieblingsplatz, jedoch überließ sie es immer dem Patienten, seinen Platz frei zu wählen. Die meisten setzten sich dann jede Woche bei jedem Termin wieder auf den selben Platz, den sie sich in der allerersten Sitzung ausgesucht hatten.
Mit dem neuen Patienten werde ich wohl mal aus meinem Zimmerchen herauskommen, dachte Anna. Wenn Herr Dürenberg seine Höhenangst loswerden wollte, und er tatsächlich für eine Verhaltenstherapie geeignet war, würden sie wohl um eine Expositionstherapie nicht herumkommen. Anna freute sich auf diese Aussicht, denn Abwechslung war immer gut.
Ein Kommentar zu „Projekt Höhenangst #1“