Projekt Höhenangst #6

„Was würden Sie sich denn wünschen?“

„Dass er mir nur ein einziges Mal zuhört und mit mir redet, anstatt sich immer wieder gegen meine Gesprächsversuche zu sperren!“, echauffierte sich Frau Lambert und ballte die Fäuste in der Luft.

Annas Patientin war sechsunddreißig Jahre alt, unglücklich verheiratet und darüber depressiv geworden. Ihr Anliegen, warum sie Anna aufgesucht hatte, war es gewesen, herauszufinden, ob ihre Ehe noch zu retten sei, oder ob sie sich lieber trennen sollte.

Sie hatte einen ausgeprägten Kinderwunsch, der sich in den letzten Jahren verstärkt hatte. Doch sie war sich unsicher, ob Max, ihr Mann, Angestellter, neununddreißig Jahre alt, der Richtige war, um mit ihm eine Familie zu gründen. Heute hatten sie ihre sechste gemeinsame Sitzung.

Anna genoss die Arbeit mit ihr. Sie selbst war nur drei Jahre jünger als ihre Patientin und hatte sie von Anfang an sympathisch gefunden. Frau Lambert war direkt sehr offen zu ihr gewesen, dazu schien sie selbstreflektiert zu sein und hatte sich schnell auf das therapeutische Setting einlassen können. Es war einfach für Anna gewesen, mit ihr in Beziehung zu treten, Vertrautheit aufzubauen und in den therapeutischen Prozess einzusteigen.

In dieser Therapie ging es weniger darum, klassische verhaltenstherapeutische Konfrontationsübungen zu machen. Es ging eher um die Klärung der Wünsche und Ziele der Patientin und um die Bewältigung ihrer Probleme, die ihre Depression auslösten und aufrechterhielten.

„Wissen Sie, ich verstehe das nicht“, rief sie, schüttelte ihre wilde, braune Mähne, um die Anna sie beneidete, und hob hilflos ihre Hände. „Er kann doch so auch nicht glücklich sein. Wir werden beide nicht jünger, und er macht einfach die Augen davor zu und tut so, als gäbe es nichts zu besprechen zwischen uns beiden. Ich verstehe nicht, worauf er noch wartet. Bis einer von uns tot umfällt, damit der andere sich endlich jemand besseres suchen kann?“ Die Patientin war sichtlich in Rage.

„Haben Sie ihn denn mal gefragt, worauf er wartet?“, fragte Anna.

„Natürlich“, sagte Frau Lambert, „aber er spricht ja einfach nicht mit mir. Sie müssen sich das so vorstellen: Wenn ich ihn so etwas frage, dann verdreht er ernsthaft die Augen und geht. Der verlässt dann wirklich den Raum! Können Sie sich das vorstellen, wie unverschämt und demütigend das ist, dass der mich nicht mal für so viel wert hält, auf meine Frage zu antworten? Und manchmal, wenn er mich nicht mit seiner völligen Ignoranz straft, dann keift er mir noch beim Rausgehen zu: `Jetzt fängst du schon wieder mit der Leier an, das ist mir echt zu blöd`.“ Sie schäumte regelrecht, als sie ihren Mann nachäffte, die Fäuste empört in die Seiten gestemmt.

„Wie gehen Sie dann damit um, wenn er so etwas zu Ihnen sagt?“

„Tja, was soll man da groß machen?“ Frau Lambert ließ sich resigniert in ihren Sessel zurücksinken. „Anfangs habe ich noch versucht, ihm hinterher zu rennen. Ich habe um ein Gespräch gebettelt, ihn regelrecht angefleht, mit mir zu reden. Dann bin ich ausgerastet, habe ihn wie eine Furie angeschrien, dass er sich mir gegenüber doch so nicht verhalten kann. Dass es mich quält, wenn er mich so ignoriert und ich nicht verstehe, warum er mich so behandelt, wenn er mich doch liebt. Ich verstehe es wirklich nicht, wie man so sein kann. Irgendwann habe ich nur noch geweint, und er hat gesagt, er hätte mich einst nicht geheiratet, um sein Leben mit einer hormonellen Heulsuse zu verbringen. Und… solche Sachen.“ Sie stockte.

„Was für Sachen?“

„Naja, dass mit mir eh nichts mehr anzufangen ist, seit ich auf meine Beförderung zur Oberärztin hinsteuere und mehr arbeite. Dass meine biologische Uhr tickt und ich schon öfter die Beine breit machen müsste, damit das nochmal was wird mit einem Kind… Womit er natürlich Recht hat…“

Anna war schockiert, sowohl über das Verhalten des Mannes als auch über die Reaktion ihrer Patientin. „Das verstehe ich nicht. Wieso hat er denn damit Recht?“

„Na, ich habe wirklich seltener mit ihm geschlafen in letzter Zeit. Aber doch nur, weil ich von der Arbeit einfach immer so platt war und viele Dienste und so hatte, so dass ich nachts oft gar nicht zuhause war. Und ich will doch auch endlich ein Kind bekommen, das ist mein sehnlichster Wunsch. Aber wissen Sie, ich hätte gedacht, er hätte mehr Verständnis für mich.“ Frau Lamberts Augen füllten sich mit Tränen.

„Was genau berührt Sie da grade?“ Anna rupfte ein Taschentuch aus der Box auf ihrem Beistelltischchen und reichte es ihr herüber.

Die Patientin nahm es an und tupfte sich ihre Tränen weg. Sie schniefte, und ihre Stimme wurde leiser und weinerlich. „Dieser Wunsch nach einem Kind ist so stark bei mir, und es wäre das Einfachste und doch so naheliegend, mit meinem Mann, mit dem ich seit fast zehn Jahren verheiratet bin, eins zu bekommen. Aber ich bin mir in letzter Zeit einfach nicht mehr sicher, ob ich überhaupt noch mit ihm zusammen sein möchte. Ob ich ihn noch liebe.

Ich habe das Gefühl, dass ich zwischen zwei Stühlen sitze: Entweder ich bekomme ein Kind mit diesem Mann, den ich gar nicht mehr richtig leiden kann, so, wie er sich verhält, und von dem ich im Moment befürchte, dass er meinem Kind kein guter Vater sein wird, wenn er mich schon so behandelt. Oder ich trenne mich, und… und ich bin allein und habe niemanden, und wenn ich Pech habe, lerne ich so schnell auch niemand Neues kennen, und… und habe dann auch kein Kind!“ Nun brach der ganze angestaute Kummer aus ihr heraus, und Frau Lambert weinte hemmungslos.

Tröstend reichte Anna ihr ein weiteres Taschentuch, da das erste dem Fluss an Tränen nicht mehr standhielt.

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